Dieter Sauter - Alles auf Anfang?

Details: Erstellt: 06. Januar 2018

Ankara will eine „neue Seite“ in den Beziehungen zu Deutschland und zur EU aufschlagen. Was steht auf dieser neuen Seite?

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Sie schütteln sich die Hand und lächeln – der (geschäftsführende) deutsche Außenminister Sigmar Gabriel und der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Das ist diplomatische Routine.

Erwähnenswert ist das nur, weil Cavusoglu noch vor wenigen Monaten in Hamburg die deutsche Regierung bitter geschmäht hatte: Deutschland verfolge eine „systematische Gegnerschaft zur Türkei“ und die Türken in Deutschland würden „systematisch unterdrückt“. Sein Chef, der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan, wurde zur gleichen Zeit so zitiert: Diese Europäische Union sei ein anti-islamisches und anti-türkisches Europa, in dem auch wieder „Gaskammern und Sammellager“ zum Thema werden könnten. Wenn die EU so weitermache, werde „kein Westler mehr sicher sein“. Da saßen schon rund ein Dutzend deutsche Staatsbürger in türkischen Gefängnissen. Berlin nannte ihre Festnahme „willkürlich“ und eine „Geiselhaft“. Jetzt wurden einige freigelassen, aber noch sind nicht alle frei.

Der „islamische Demokrat“

Es ist schon lange her, da wurde Tayyip Erdogan in der Presse im Westen der „islamische Demokrat“ genannt und eine türkische Tagezeitung zitierte ihn mit dem Satz: „Meine politischen Ideale sind Demokratie, Freiheiten, Toleranz, Menschenrechte, Säkularismus“ (11.12.2002) Sowohl im Wahlprogramm als auch im Regierungsprogramm der AKP stand zu jener Zeit unter dem Abschnitt „Außenpolitik“ immer die EU an erster Stelle - und das Versprechen: Wir werden die Aufnahmekriterien so schnell wie möglich erfüllen. Ankara wollte gar einen EU-TV Kanal einrichten.

Die alljährlichen sog. „EU Fortschrittsberichte“ über die Reformen in der Türkei waren im Oktober EU – weit ein wichtiges Thema. Nach und nach wurden es aber Berichte über Fort–Schritte von der EU. Dann wurde die Veröffentlichung des Berichtes verschoben. Inzwischen fragt niemand mehr danach. Kurz vor dem Militärputsch 2016 schickte Ankara einen kritischen Bericht des EU Parlaments über die Lage der Menschenrechte am Bosporus einfach nach Straßburg zurück – Annahme verweigert. Es folgten mehrere ‚letzte Warnungen’ aus Ankara an die EU. Vor drei Monaten dann hörte man von Tayyip Erdogan: Wir brauchen die Mitgliedschaft in der EU nicht mehr.

Und jetzt? Alles wieder gut?

Tayyip Erdogan schüttelt die Hand seines „Freundes Emmanuel Macron“, während Mevlüt Cavusoglu sich in Deutschland „aufrichtig wünscht“ dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei wieder in freundschaftlichem Dialog fortgesetzt werden.

Die neue Freundlichkeit hat mehrere Gründe.

Natürlich ist da zunächst die Wirtschaft. Trotz aller lancierten Berichte und schöngefärbten Reden über den rasanten Aufschwung beim Handel, die Investitionen und das blühende Geschäft mit den Urlaubern: Die Inflation steigt, die Arbeitslosigkeit auch, die Hotels unterbieten sich mit Last-Minute-Schnäppchen und werden trotzdem nicht voll, Turkish-Airlines streicht Flugverbindungen sogar nach Deutschland. Es wird für die Regierung immer teurer, die Auswirkungen der wirtschaftlichen Probleme auf die Bevölkerung mit Geld aus der Staatskasse abzufedern. Ob das noch eineinhalb Jahre lang – bis zu den Präsidentschaftswahlen 2019 – gelingt, ist ungewiss. Allein eine Erweiterung der Zollunion mit der EU, die zur Zeit vor allem Berlin blockiert, könnte eine Steigerung des Bruttosozialproduktes um 2 % bedeuten, meinen Fachleute.

Aber auch Brüssel und Berlin haben etliche Gründe, um jede Möglichkeit eines sachorientierten Dialogs mit Ankara wahrzunehmen.

Wer auch immer in Berlin regiert hat ebenso wenig Interesse an einem Absturz der Wirtschaft am Bosporus. Wer glaubt schon an die schlichte Gleichung: Die Krise kommt, Erdogan geht. Und was kommt dann? Was würde das für die rund 6.700 „deutschen Betriebe“ in der Türkei heißen? Was für die Wirtschaft der EU? Die Franzosen wollen am Schwarzen Meer Atomkraftwerke bauen, Airbus Satelliten für die Türkei montieren, Italien mit Ankaras Rüstungsbetrieben zusammen ein Raketenabwehrsystem entwickeln – es gibt viele europäisch-türkische Wirtschaftsprojekte. Wo ist der Politiker um große ein großes europäisches Unternehmen zu bewegen, sein Engagement am Bosporus zu überdenken?

Die Hoffnung „Donald Trump“

Ankara hat ein weiteres Problem: Für die Türkei hat sich außerdem die Hoffnung auf eine neue Ära in den Beziehungen zu Amerika unter Donald Trump nicht erfüllt. (siehe auch Amis raus aus der Türkei – Wird’s besser? Wird’s schlechter? ... ) Vor 10 Jahren, 2007, lockte der ehemalige Außenminister Henry Kissinger noch: Wenn es mit der Mitgliedschaft der Türkei in der EU nichts werde, dann gebe es ja für Ankara noch die USA. Die Türkei könne ja auch besonders enge Beziehungen zu Washington anstreben. Inzwischen vergeht kaum ein Monat, in dem nicht neuer Händel mit den USA unter grimmigem Geschimpfe aus Ankara ausgetragen wird. Zuletzt verurteilte ein US Gerichtshof einen Vertrauten Erdogans, weil der auf Geheiß des türkischen Staatspräsidenten gegen die Iran-Sanktionen verstoßen habe. Die türkisch-amerikanischen Beziehungen waren nicht einmal unter Barack Obama so schlecht wie heute.

Doch bekannt sind auch die Differenzen zwischen der EU zu den USA.

Was, wenn sich der Konflikt zwischen den USA und dem Iran zuspitzt? Was, wenn Donald Trump Saudi-Arabien grünes Licht gibt, noch energischer gegen den Iran vorzugehen, wenn der Konflikt auch die Sicherheit Israels bedroht? Ob in Syrien, im Irak, in Palästina, überall haben die verschiedenen Seiten bewaffnete Milizen in Stellung gebracht.
Bei all diesen Konflikten ist die Türkei auch ein „Frontstaat“. Ohne die Türkei wäre es noch schwieriger, diesen Bedrohungen zu begegnen, gegen die Türkei nahezu unmöglich, so Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität München.

Selbst bei grundlegenden Sicherheitsfragen für Europa ist die Zusammenarbeit mit Ankara elementar. Der IS in Syrien scheint besiegt. Die Sicherheitsorgane in Deutschland stellen fest, dass rund 650 IS Kämpfer aus Deutschland noch nicht zurückgekehrt sind. Wo sind die hin? Viele ziehen über die Türkei weiter.

Neue Sachlichkeit statt Streit um den EU Beitrittsprozess?

Natürlich ist jetzt längst nicht alles wieder gut – selbst wenn Mevlüt Cavusoglu andeutet: Sollte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Freilassung des deutschen Journalisten Deniz Yücel fordert, dann werde Ankara sogar dieser Forderung nachkommen. Weder Emmanuel Macron noch Sigmar Gabriel oder Angela Merkel wissen, wann Ankara den nächsten Haken in der Außenpolitik schlagen wird.

Macron, der in der EU seit einiger Zeit die Initiative übernommen hat, zeigt gegenüber der Türkei so etwas wie „neue Sachlichkeit“. Dialog über alle anstehenden Fragen der Außenpolitik? Ja! Neue Kapitel in Beitrittsverhandlungen zur EU? Nein! Keine Heuchelei mehr! Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit seien grundlegend. Und Tayyip Erdogan? Der meinte nur, die Türkei werde nicht um einen Beitritt „betteln“. Ende der Durchsage.

Danach beschimpft zwar ein paar Journalisten in Paris, da blieb er sich treu. Zu Hause aber schweigt sich die gesamte regierungsfreundliche Presse über die Kritik des französischen Präsidenten aus. Dafür loben alle den „Neuanfang“ in den Beziehungen zur EU und zu Deutschland. Einige interpretierten Erdogans ‚Zurückhaltung’ auf die klare Ansage Macrons zu den EU Beitrittsverhandlungen gar als Anfang vom Ende des türkischen Beitrittsprozesses.

Was steht nun auf der ‚neuen Seite’ der Türkei-EU-Berlin-Beziehungen? Das Wort ‚Vertrauen’ wird man vergeblich suchen. ‚Pragmatisch’ benutzt man in solch einem Fall gerne. Bedeutet das: Nur ‚sachbezogen’? Das ist aber auch schwer vorstellbar. (aktualisiert 8.1. 2018)