Putscht die Justiz? Geht es bei dem Verfahren um ein Verbot der AKP oder um eine Atmosphäre wirtschaftlicher und politischer Instabilität, die in den kommenden Monaten zu erwarten ist. Soll die Partei über dem Verbotsverfahren gespalten werden ?

 

 Es hat nur wenige überrascht, dass das Verfassungsgericht den Prozess zum Verbot der AKP angenommen hat. Immerhin soll sich der Berichterstatter des Verfassungsgerichtes nach Presseberichten schon vergangene Woche für die Annahme dieses Verfahrens ausgesprochen haben. Erschrocken sind trotzdem viele.

Alle Hoffnungen, es werde vielleicht doch nicht so schlimm werden mit dem Machtkampf zwischen den alten Machtcliquen, den Kemalisten, den „weissen Türken“, und den islamisch-konservativen Kräften der AKP, den „schwarzen Türken“ – diese Hoffnungen sind dahin.

Die meisten politischen Beobachter sind sich einig: Das war nicht die Aktion eines „durchgeknallten Staatsanwaltes“. Von wegen „Unabhängigkeit der Justiz“: Es ist ein einmaliger politischer Prozess, den die Staatsanwaltschaft angestossen hat. Noch nie in der Geschichte der Republik Türkei hat die Justiz gegen eine Partei, die seit 5 Jahren die Regierung stellt und gerade vor 8 Monaten mit einem beeindruckenden Stimmenzuwachs von insgesamt 47 % der Wähler im Amt bestätigt wurde, ein solches Verfahren anstrengt. Damit soll sowohl der gerade gewählte Regierungschef als auch der Staatspräsident gestürzt werden.

AKP- und Regierungschef Tayyip Erdogan und Kultusminister Ertugrul Günay rückten dieses Vorgehen der Staatsanwaltsschaft gar in die Nähe der Verbrecherbande „Ergenekon“, die – vor wenigen Wochen verhaftet - für das kommende Jahr in der Türkei einen Staatsstreich vorbereitet haben soll. Das Wort vom „Justizputsch“ wurde geboren. Was stimmt: Mit dem Verbotsantrag und dem dann folgenden jahrelangen Gerichtsverfahren kommt auf die Türkei auch nichts weniger als eine Staatskrise zu.

Es ist noch nicht einmal klar, ob es den Kräften hinter diesem Verfahren tatsächlich um das Verbot der AKP geht, oder ob sie lediglich auf die wirtschaftliche und politische Instabilität setzen, die in den kommenden Monaten zu erwarten ist. Denn den Verbotsantrag selbst halten einige Experten für so schlampig formuliert, dass man ihn in einem Grundseminar für Jurastudenten als Beispiel verwenden könnte, wie man einen Verbotsantrag nicht formulieren sollte. Auch der Antrag, 71 Funktionäre der AKP mit einem 5 Jahre dauernden „Politikverbot“ zu belegen, deutet in diese Richtung. Denn diese 71 sind keineswegs alle die aktivsten Parteimitglieder, es ist nicht der gesamte Parteivorstand, nicht einmal alle 71 sind Abgeordnete im Parlament, nur 39. Steht dahinter die Hoffnung, die Partei über dem Verbotsverfahren spalten zu können? Bekanntlich spaltete sich die islamistische REFAH Partei mit ihrem Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan im Zuge des Verbotsverfahrens gegen die REFAH Partei vor gut 10 Jahren – und die AKP wurde gegründet.

Der Zeitpunkt des Verbotsverfahrens ist nicht von ungefähr gewählt. Noch hat die alte Fraktion der Kemalisten mit 8 von 11 Stimmen im Verfassungsgericht die Mehrheit. In zwei Jahren, wenn die Amtszeit dreier Verfassungsrichter endet, könnte die Mehrheit des Verfassungsgerichtes aus AKP nahen Juristen bestehen. Ausserdem trifft der Prozess die AKP in einer Phase der „Schwäche“. Noch vor den letzten Parlamentswahlen vor rund 8 Monaten war selbst die EU vom Reformeifer der AKP überrascht. Das Wort von der „stillen Revolution“ machte die Runde. Jetzt kritisieren selbst AKP Anhänger, die Partei ruhe sich seit 8 Monaten wie „besoffen“ auf ihrem Wahlsieg aus. Die Arbeitslosigkeit steigt, das Wirtschaftswachstum war im letzten Jahr so gering wie in den vorangegangenen 6 Jahren nicht, und statt eine der dringenden wirtschaftlichen und sozialen Reformen einzuleiten, hat die Partei die Debatte über das Kopftuchverbot losgetreten und eine Wahlkreisreform durchgeführt, um sich einen Vorteil bei den kommenden Kommunalwahlen zu sichern. Erst vor wenigen Tagen hatten über 100 Intellektuelle des Landes die Regierung in einem offenen Brief aufgefordert, endlich die Probleme des Landes anzupacken. Selbst in der Kurdenfrage hat die AKP ja in einer „Rolle rückwärts“ das Feld zunächst wieder vollständig dem Militär überlassen.

Unerschütterliche Optimisten behaupten, die werde bei den kommenden Wahlen allenfalls noch mehr Stimmen erhalten, wenn das Verbotsverfahren fortschreitet. Sicher ist das aber nicht. Beeindruckt vom eigenen Wahlsieg im vergangenen Sommer hatte die Regierungspartei alle Ankündigungen und Versprechen rasch vergessen, sie werde sich auch auf die Teile der Gesellschaft zu bewegen, die ihr bisher kritisch gegenüberstehen. Sicher ist bisher allenfalls, dass die Rechtsnationalisten von der MHP (Graue Wölfe) von dieser Krise profitieren. Sie haben sich bisher klug staatstragend präsentiert, anders als die „national-sozialistische“ CHP das Parlament bei der Präsidentschaftswahl nicht boykottiert und damit eine Krise verhindert, und sie haben auch die Aufhebung der Kopftuchverbotes mitgetragen. Im Parlament sind sie die einzige „vermittelnde“ Kraft von Rang.

Der für die EU Erweiterung zuständige EU Kommissar Rehn erklärte inzwischen: Wenn die AKP verboten werde, dann würde die EU auch die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei neu überdenken müssen. Die Kemalisten und auch die Rechtsnationalen von der MHP stört das wenig. Sie haben mit der EU sowieso nicht viel am Hut.