Runter mit der Inflation! Der Staat verkauft jetzt Obst und Gemüse zu moderaten Preisen an eigenen Verkaufsstellen. Schafft Tayyip Erdogan im Kampf gegen steigende Preise die Marktwirtschaft ab?
Die Schlangen sind lang. Vor allem die Alten, Armen und Arbeitslosen warten jeden Morgen vor den neu eingerichteten staatlichen Verkaufsstellen für Obst und Gemüse. Immerhin: Paprika kostet dort nur halb so viel wie im ‚normalen’ Laden. Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln sind um ein Drittel billiger. „Ich habe die Tomaten und Kartoffeln hier für 5 Lira bekommen“, erzählt eine Frau einem der Journalisten, die im Istanbuler Stadtteil Sisli um die Wartenden herumstehen: „Wenn ich das im Supermarkt gekauft hätte, hätte ich 20 Lira bezahlt“. „Ja, das ist hervorragend hier“, meint eine andere, „hoffentlich geht der Verkauf auch weiter. So wie bisher konnte das ja nicht weitergehen!“
Noch vor wenigen Monaten wollte der Staatsanwalt in Istanbul wegen solcher Äußerungen ermitteln: Man werde gegen jeden vorgehen, der ‚Lügen über die Wirtschaft und die Wirtschaftslage’ verbreite und damit das ‚Komplott gegen die türkische Wirtschaft’ unterstütze.
Kampf den Lebensmittel-Terroristen
Inzwischen sind die ‚Preistreiber’ die Terroristen. „Lebensmittel-Terroristen“ nannte sie der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan vor zwei Tagen. „Sie haben vor kurzem in der Türkei begonnen zu agieren. Die Preise für Kartoffeln, Tomaten und Gurken begannen zu steigen. Das war ein terroristischer Angriff“. Und weiter: So wie man die PKK in den Höhlen im Südosten der Türkei bekämpfe, so werde man auch gegen diese Terroristen vorgehen.
Und wie ?
Der Schwiegersohn des türkischen Staatspräsidenten, auch Minister für Finanzen und in der Regierung für gute Nachrichten zuständig, hatte das vergangene Jahr über fast wöchentlich wiederholt: Man habe die Angriffe auf die türkische Wirtschaft abgewehrt. Die Inflation sei besiegt. Die Preise selbst für Zwiebeln würden wieder spürbar sinken.
Aber dann grätscht ihm schon im Oktober der Einzelhandel dazwischen: Der Verkauf sei um 7,5 % zurückgegangen. Schließlich werden in den Lebensmittelläden Preise ausgezeichnet, die um rund 30 % höher sind als ein Jahr zuvor.
Wer dreht an der Preisschraube?
Es sind aber keine bösen grünen Männchen, die an der Preisschraube drehen. Die steigenden Preise sind vor allem das Ergebnis falscher Landwirtschaftspolitik seit vielen Jahren. Immer mehr Bauern ziehen von ihrem Land in die Stadt, weil sie von auf ihrem Hof kein Auskommen mehr haben.
Allein 2018 ging die Produktion von verschiedenen Obst-, Gemüse und Getreidesorten zwischen 3 und 7 % zurück – und das bei steigender Bevölkerungszahl. Die Produktion von Milchprodukten sank gar um rd 10 %. Die Türkei, die einst große Mengen Lebensmittel exportierte, muss sie nun massenhaft importieren. Da der Wert der türkischen Lira verfiel, die Preise für verschiedene Gemüsesorten und Früchte stiegen um mehr als 60 %
Nun rät der Landwirtschaftsminister: Wenn wir statt Fleisch vor allem Fisch und Huhn essen, dann sparen wir uns Fleischimporte für ein ganzes Jahr. Doch da beschwert sich die Metzgerinnung: Der Preis allein für Hühnerklein sei in 9 Monaten um das Dreifache gestiegen.
HO-Läden ala Honecker?
Im Herbst noch hatten staatliche Kontrolleure, begleitet von großem Presseaufgebot, auf Märkten und in Geschäften den Ladenbesitzern gedroht: Die Preise müssen runter! Die Antwort war schlicht: Wenn wir die Preise runtersetzen gehen wir Pleite. Dann müssen wir den Laden schließen - und es wird gar nichts mehr verkauft.
Jetzt also sollen staatlich subventionierte Lebensmittel an besonderen Verkaufsständen den Unmut der Menschen dämpfen. Mehr als 50 staatliche Verkaufsstellen soll es allein in Istanbul geben. Und weil das immer noch viel zu wenig ist – rechnerisch käme ein Verkaufsstand auf 300.000 Einwohner - will die Regierung den Verkauf sogar via Internet ermöglichen.
Um eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit subventionierten Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs zu decken, müsste Tayyip Erdogan ein Netz von türkischen HO Läden ala Erich Honecker aufbauen, das auch noch Amazon Konkurrenz machen könnte. Erdogan weiß, was aus Honecker schließlich wurde.
... Geld gibt es allenfalls bis April
Tatsächlich schüttet die Regierung schon jetzt viel Geld aus, das sie eigentlich nicht hat, um den Preisanstieg zumindest bis zu den Kommunalwahlen in 7 Wochen im Zaume zu halten. Sie hat bereits den Mindestlohn um 26 % angehoben, subventioniert die Preise für Strom und Gas und für Straßen- und Brückengebühren und fördert mit noch mehr Geld als zuvor den Wohnungsbau – und wird die Subvention für Lebensmittel allenfalls noch bis April finanzieren. Und dann ?
Als Wahlkampf-Kampagne haben die Verkaufsstände aber sicher ihre Wirkung. Sie zeigen, dass die Regierung weiß, wo der Schuh drückt – und Erdogan macht was. Die große Oppositionspartei CHP streitet sich derweil untereinander, wer denn nun wo bei den Kommunalwahlen kandidieren darf.